Das arme Waisenmädchen

An einem Fluß, der rauschend schoß
ein armes Mädchen saß.
Aus ihren blauen Äuglein floß
Manch Tränchen in das Gras.

Sie wand aus Blumen einen Strauß
Und warf ihn in den Strom.
Ach, guter Vater, rief sie aus,
Ach. lieber Bruder, komm!

Ein reicher Herr gegangen kam
Und sah des Mädchens Schmerz,
Sah ihre Tränen, ihren Gram,
Und dies brach ihm das Herz.

Was fehlet, liebes Mädchen, dir,
Was weinest du so früh?
Sag deiner Tränen Ursach mir,
Kann ich, so heb ich sie.

Ach,lieber Herr, sprach sie und sah
Mit trübem Aug ihn an,
Sie sehn ein armes Mädchen da,
Dem Gott nur helfen kann.

Denn sehn Sie, jene Rasenbank
Ist meiner Mutter Grab,
Und ach, vor wenig Tagen sank
Mein Vater hier hinab.

Der wilde Strom riß ihn dahin,
Mein Bruder sah’s und sprang
Ihm nach, da faßt der Strom auch ihn,
Und ach, auch er ertrank.

Nun ich im Waisenhause bin,
Und wenn ich Rasttag hab,
Schlüpf ich zu diesem Fluße hin
Und weine mich recht ab.

Sollst nicht mehr weinen, liebes Kind,
Ich will dein Vater sein.
Du hast ein Herz, das es verdient,
Du bist so fromm und rein.

Er tats und nahm sie in sein Haus,
Der gute reiche Mann!
Zog ihr die Trauerkleider aus
Und zog ihr schöne an.

Sie saß an seinem Tisch und trank
Aus seinem Becher satt. –
Du guter Reicher, habe Dank
Für deine edle Tat.

Text: Kaspar Friedrich Lossius (Leipzig 1781)
Musik: unbekannt
auch unter dem Titel: (An einem Strom der rauschend schoß)